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Der romantische Roman

Eine Kurzgeschichte von Johannes Koch

Als Kind wurde ich in der Schule mit allerlei Gedichten, Essays, Kurzgeschichten und anderen Texten gequält. Natürlich nur zu meinem Besten, so versicherten mir die Lehrer stets. Die meisten von ihnen hatte ich schon am nächsten Tag vergessen, aber eine von ihnen ist mir lange im Gedächtnis geblieben. Sie handelte von zwei Meisen die ein „A“ fanden. (Gemeint ist hier der Buchstabe) Sie stritten um dieses „A“, schließlich gab eine von ihnen nach, bekam das „A“, verwandelte sich in eine Ameise und wurde von der anderen gefressen. Dieses pfiffige Wortspiel, gepaart mit der Moral: „Der Klügere gibt nach“ sorgte damals bei meiner Lehrerin für eine Begeisterung, die sie kaum verbergen konnte. Ich persönlich fand die Geschichte eher doof, aber trotzdem habe ich sie nie vergessen.

Viele Jahre später wurde ich besonders an diese Geschichte erinnert und das kam so: Ich war bei der alten Frau Busch zu Besuch. Diese hatte sich in ihrem Vorstadtgarten das kleine Glück eingerichtet. Zwischen den Zäunen, die vor den Blicken der feindlichen Nachbarn schützen, lag ein kleiner, aber bestens gepflegter Garten mit unzähligen Pflanzen und vielen kleinen und größeren Tieren als Untermieter. Auch einen Vogelkasten hatte Frau Busch aufgehängt, in diesem hatte viele Jahre ein Meisenpaar gelebt und gebrütet. Im letzten Winter waren die alten Meisen jedoch verstorben und so war der Brutkasten vakant. Er wurde eines Tages von einem jungen Kohlmeisenmännchen, nennen wir ihn Roman, entdeckt. Wie es der Frühling so will, hatte Roman Frühlingsgefühle entwickelt und sich in ein junges Kohlmeisenweibchen verliebt. Ich weiß nicht, ob Roman ein Nachkomme des alten Meisenpärchens war oder von weiter zugereist. Jedenfalls kamen ihm und seiner Geliebten der ungenutzte Brutkasten gerade recht.

Doch so ein Brutplatz will reichlich überlegt sein, denn auch Meisen wollen für ihre Kinder natürlich nur das Beste. So beschloss Roman also die Gegend zu erkunden und dafür zu sorgen, dass alles sicher ist. Bald entdeckte er eine feindliche Meise, stürzte sich todesmutig auf sie und versuchte sie mit seinem Schnabel zu vertreiben. Wieder und wieder kämpfte er gegen seinen Rivalen, doch dieser kehrte jeden Tag aufs Neue zurück. Was Roman mit seinem Spatzenhirn nicht verstand: Seinen Gegner gab es gar nicht. Er war zum Spiegelfechter geworden, hatte sinnlos mit seinem eigenen Spiegelbild gekämpft, das er wieder und wieder in den Fensterscheiben der alten Frau Busch entdeckte und völlig zu Unrecht für einen Feind hielt. Eine bei Meisen weit verbreitete Verhaltensweise. [...]