logo2016

Auf den Straßen von Leipzig

In manchen Fällen können wir nur Schlafsäcke verteilen

Das Team „Konsum“ vom Projekt „Safe“ macht Straßensozialarbeit für Erwachsene im Leipziger Westen. In Grünau, Lindenau, Plagwitz, Kleinzschocher und Leutzsch suchen die Sozialarbeiter/innen öffentliche Plätze auf, um mit den Menschen, die sich dort aufhalten, in Kontakt zu kommen. Ein derzeit besonders akutes Thema sind die steigenden Zahlen der EU-Migrantinnen und -Migranten unter den Obdachlosen und Bedürftigen. Hier wird deutlich, dass bei der EU-Erweiterung neben den wirtschaftlichen Aspekten die sozialen nicht mitgedacht worden sind: Nicht nur gut vermittelbare Arbeitskräfte nutzen die Freizügigkeit, sondern auch weniger gut qualifizierte Menschen, aber es gibt keine einheitliche soziale Absicherung für EU-Bürger/innen, die zumindest in Leipzig durch sämtliche Raster fallen und im schlimmsten Fall nicht mal die Möglichkeit einer Notübernachtung in Anspruch nehmen.
Die KiPPE sprach unter anderem darüber mit Jessica Richter und Tino Neufert von „Safe“.

Interview: Sandy Feldbacher


KiPPE: Was genau macht ihr bei „Safe“?
Tino Neufert: Ich bin seit sieben Jahren im Projekt, habe es mit aufgebaut und derzeit Teamleiter. Anfangs war unser Hauptthema Alkoholkonsum im öffentlichen Raum. Es ging vor allem um eine hohe Beschwerdelage und Unsicherheit von Seiten der Anwohner. Mittlerweile kümmern wir uns um Menschen, deren Lebensmittelpunkt der öffentliche Raum ist. Das sind nicht nur Alkoholkonsumenten, sondern auch Obdachlose und allgemein Menschen in sozialen Schwierigkeiten.
Jessica Richter: Meine Stelle wurde explizit für Crystal-Konsumierende geschaffen. Das heißt, ich habe als Streetworkerin einen Fokus auf diese Leute. Ich schaue, was sie brauchen und wie wir ihnen helfen können, ohne sie zwangsläufig zur Abstinenz zu motivieren. Die meisten kommen mit ganz anderen Problemen wie, dass sie keinen Strom haben oder kurz davor stehen, ihre Wohnung zu verlieren. Nach Wunsch vermittle ich ihnen entsprechende Hilfsangebote.

Was sind derzeit die Themen, die euch als Sozialarbeiter/innen im Leipziger Westen umtreiben?
J. R.: Mein Eindruck ist, dass die Leute vor allem unter einer zunehmenden Bürokratisierung leiden. Hilfsmöglichkeiten sind zwar in der Regel vorhanden, aber der Weg dahin ist kompliziert, komplex und undurchsichtig, teilweise selbst für uns, die wir dafür ausgebildet sind.
T. N.: Wir haben außerdem den Eindruck, dass Obdachlosigkeit in Leipzig akuter wird. Seit Anfang 2014 gibt es eine Zunahme, vor allem durch EU-Migranten. Das ist eine Spezialgruppe von Leuten im öffentlichen Raum, die es früher nicht gab.

Welche Gründe stehen hinter der zunehmenden Obdachlosigkeit?
T. N.: Die Freizügigkeit für EU-Migranten. Deutschland ist attraktiv, die Leute wollen ein Stück vom Kuchen abbekommen. Das ist vollkommen legitim und nachvollziehbar. Nach Leipzig kommen auch insgesamt gerade viele Leute, und je mehr kommen, desto mehr fallen hinten runter. Je mehr Konkurrenz etwa um Wohnraum besteht, desto weniger Chancen haben Leute, die Probleme haben. Vor einigen Jahren war es den Vermietern noch ganz lieb, wenn die Miete regelmäßig vom Amt kam. Das ist jetzt nicht mehr so. Da gibt es stressfreiere Mieter – wie etwa junge, hippe Studenten, bei denen die Eltern die Mietkosten zahlen.
J. R.: Außerdem muss man sich mittlerweile – wie in anderen großen Städten – für Wohnungen bewerben. Allein dieser Vorgang – sich mit unzähligen Unterlagen zu präsentieren, das macht es nicht leichter. Und wenn man keine vollkommen reine Weste hat, ist es noch schwieriger. Viele Hartz-IV-Empfänger rechnen auch nicht damit, dass das Jobcenter dazu berechtigt ist, die Leistungen zu 100 Prozent einschließlich der Miete zu sanktionieren und werden dann von einer Zwangsräumung überrascht.
T. N.: Da können wir nur noch Grundhilfe leisten. Das ist neu. In der Entstehungszeit des Projekts und den ersten zwei, drei Jahren war es nie ein Thema, Schlafsäcke zu verteilen. Jetzt haben wir richtige Deals mit dem Sozialamt und der Sachspendenzentrale für Schlafsäcke und Isomatten. Und das nimmt zu. Für EU-Bürger ist es schwieriger, in die Übernachtungshäuser reinzukommen. Eine Notübernachtung bieten diese zwar nach eigener Aussage immer an, aber längerfristig funktioniert das in der Regel nicht. Was machst du mit diesen Menschen? Nicht nur in sozialrechtlicher Hinsicht, sondern im Sinne der Menschenwürde. Wir können nur Schlafsäcke verteilen, vermitteln aber auch in Integrationsberatungsstellen und zu einem Verein, der kostenlose medizinische Behandlung anbietet. Doch die Kapazitäten sind da sehr begrenzt. Staatliche oder städtische Strukturen sind für diese Gruppe nicht vorhanden. Wir sind Kontakter und Vermittler. Bei den EU-Migranten können wir aber kaum irgendwohin vermitteln.
J. R.: Wir weisen sie immerhin auf die Tagestreffs in Leipzig hin, wo es kostenlos Tee, Brötchen und günstiges warmes Essen gibt.
T. N.: Dort kann man sich zwar tagsüber aufhalten, was aber die meisten nicht machen, weil sie da betteln oder die KiPPE verkaufen, die für einige eine wichtige Einnahmequelle ist. [...]