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Kein Mensch ist freiwillig obdachlos

2015 erreichten viele aus ihren Heimatländern geflüchtete Menschen Deutschland – eine Entwicklung, die mit viel Medieninteresse begleitet wurde. Bereits 2014 nahm von vielen unbemerkt eine andere Form der Zuwanderung deutlich zu: die von EU-Bürger/innen aus Südosteuropa. Diese Gruppe hat zwar aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes ein Aufenthaltsrecht hierzulande, doch geraten diese Menschen, die oft aus prekären Verhältnissen kommen, zunächst kein Deutsch sprechen und in der Regel eher gering qualifiziert sind, schnell in soziale Notlagen. Die Streetworker Eike Bösing und Tino Neufert vom Projekt SAFE haben tagtäglichen mit obdachlosen EU-Migrant/innen zu tun und berichten über ihre Arbeit und Probleme, mit denen sie sich konfrontiert sehen.

Interview & Foto: Sandy Feldbacher


KiPPE: Was beschäftigt euch bei eurer Arbeit auf der Straße gerade am meisten?
Eike Bösing (Foto: rechts): Jetzt in der kalten Jahreszeit vor allem die Leute, die ungeschützt im öffentlichen Raum, Baracken, Abrisshäusern oder leer stehenden Industriegebäuden schlafen. Diese versorgen wir niedrigschwellig mit Schlafsäcken und Isomatten, weil viele die Übernachtungshäuser nicht nutzen, vor allem zugezogene EU-Bürger/innen. In dem Zusammenhang fehlt natürlich günstiger Wohnraum in der Stadt, was für uns auch ein brennendes Thema ist, ebenso wie der Umgang mit wohnungs- und obdachlosen Menschen in der Innenstadt und am Hauptbahnhof. Es gibt Bestrebungen des Unternehmerverbandes Sachsen, die Innenstadt bettelfrei zu machen, und man munkelt, dass es Pläne gibt, den Gehweg vor dem Hauptbahnhof zu privatisieren, nachdem es dort bereits laute Musikbeschallung gab, damit die Leute, die sich dort aufhalten, einfacher weggeschickt werden können. In diesen Entwicklungen erkennen wir eindeutig Verdrängungstendenzen.

Es gibt heute mehr obdachlose Menschen in Leipzig als noch vor ein paar Jahren. Mittlerweile ist das im öffentlichen Raum auch sichtbar. Kann man das in Zahlen fassen?
E. B.: Es gibt keine offiziellen Zahlen, die alle umfassen. Die einzigen sind die von den Notunterkünften. Das ist aber nur ein Bruchteil, weil viele Leute auf der Straße schlafen. 2016 waren laut der Stadt Leipzig 818 Menschen notuntergebracht.
Tino Neufert (Foto: links): Wir zählen auch selbst. 2014 bis 2015 hatten wir im Leipziger Westen einen Anteil von 2 % an Wohnungs- und Obdachlosen unter unseren Kontakten, jetzt haben wir 12–15 %. Unser Team, das im Leipziger Norden arbeitet, ist 2016 gleich mit 15 % der Gesamtkontakte eingestiegen. Eine umfassende Statistik von Seiten der Stadt ist aber endlich in Planung.

Was sind das für Leute, die draußen schlafen und wie ist ihre Situation derzeit?
E. B.: Das sind wesentlich mehr Männer. Das Alter ist unterschiedlich, wir haben einige, die sind Ende 20, Anfang/Mitte 30, die meisten sind allerdings eher 40+, relativ bunt gemischt würde ich sagen, wir haben sogar einen, der ist über 80, wobei das ein Ausnahmefall ist.
T. N.: Die Situation, in der sich die Menschen befinden ist problematischer geworden, weil auch die persönlichen Voraussetzungen problematischer geworden sind. Wir haben häufiger mit Menschen mit mehreren Problemlagen zu tun, z. B. kein Wohnraum, riskanter Alkoholkonsum und eine psychische Störung. Da ist man schon ab und an mal überfordert. Wenn dann noch ein EU-Migrationshintergrund dazu kommt und die Person kein Deutsch versteht, kommen wir kaum noch an sie heran.

Was sind eure Möglichkeiten, den Menschen über Schlafsack und Isomatte hinaus zu helfen? Zu welchen Hilfsangeboten vermittelt ihr sie?
E. B.: Unsere wichtigsten Kooperationspartner sind die beiden Tagestreffs in Leipzig „Insel“ und „Oase“. Da kann man tagsüber hinkommen, sich aufhalten, essen, waschen und wird intensiver beraten als wir das können. Viele Dinge klären wir aber auch direkt auf der Straße, wenn etwa aufgrund eines akuten Problems gleich eine Beratung vor Ort nötig ist. Für die EU Ausländer/innen gibt es keine passende Anlauf- oder Beratungsstelle. Es gibt zwar gute Migrationsberatungsstellen, aber die sind überlastet. Wir sehen die Stadt hier in der Verantwortung, weitere Versorgungsstrukturen anzubieten.
T. N.: Außerdem wünschen wir uns einen festen Ansprechpartner für EU-Ausländer/innen vonseiten der Stadt, weil die Leute ja trotz der schlechten Perspektive da sind, ob andere darin einen Sinn sehen oder nicht.
Was wir machen ist Beraten, Begleiten (zum Beispiel zu Ämtern) und Vermitteln. Was aber auch wichtig ist – wir sind die erste Anlaufstation im Hilfesystem und oft die einzigen, die den Kontakt halten. [...]