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Endet Obdachloskeit 2030?

Luft nach oben: Das Modellprojekt „Eigene Wohnung“

1992 entwickelte der Psychologe Sam Tsemberis den Housing-First-Ansatz für Obdachlose in New York. Dieses Konzept der Sozialhilfe beruht auf der Idee, obdachlosen Menschen zuerst bedingungslos Wohnraum zur Verfügung zu stellen und ihnen danach weitere Hilfen anzubieten. In der nach wie vor vorherrschenden Obdachlosenhilfe sollen dagegen alle anderen Probleme von Betroffenen geregelt werden, bevor eine eigene Wohnung bezogen werden darf. Ab Mitte der 2010er Jahre wurden auch in Europa Housing-First-Projekte gestartet. Dass Obdachlosigkeit damit nachhaltig stark reduziert werden kann, zeigen zahlreiche Studien und Daten, etwa aus Finnland. Die Stadt Leipzig startete 2021 das Housing-First-Modellprojekt „Eigene Wohnung“, das vom sozialen Träger „Das Boot gGmbH – Sozialpsychiatrisches Zentrum“ betreut wird. Wir sprachen mit dessen Sozialarbeiter Franz-Martin Vojtech, der als einer von vier Mitarbeitenden für die soziale Betreuung im Projekt verantwortlich ist.

Interview: Hans Jachmann und Sandy Feldbacher & Foto: Enrico Meyer


KiPPE: Wie gestalten Sie Ihre Arbeit mit den Teilnehmenden am Projekt?
Franz-Martin Vojtech: Eins der Grundprinzipien von Housing First ist das Trennen von Wohnen und der sozialen Betreuung. Wir sind nicht die Vermietenden, sondern die ehemals obdachlosen Menschen haben ganz normale Mietverträge mit der LWB. Und die Betreuung beruht auf Freiwilligkeit. Die Wohnung ist nicht daran geknüpft, ob sie mit uns Kontakt haben oder nicht. Auch wenn sie ein halbes Jahr untertauchen, fliegen sie nicht aus dem Projekt und verlieren auch nicht die Wohnung. Wir bieten aber immer wieder aktiv Unterstützung an. Die Hilfen werden flexibel gestaltet und orientieren sich an den jeweiligen Wünschen und Bedürfnissen: ob wir mit den Menschen die Post bearbeiten oder zur Schuldnerberatung gehen, ob wir sie dabei unterstützen, die medizinische Versorgung wiederherzustellen, in eine Entgiftung oder Substitution zu kommen, ob es entlastende Gespräche im Alltag sind oder das Thema Arbeit und Beschäftigung. All das und mehr bieten wir an, aber wenn mir jemand sagt, er hat keinen Bedarf oder er möchte in Ruhe gelassen werden, dann akzeptieren wir das. Es gibt auch die Möglichkeit, dass eine Person generell aus dem Projekt heraustritt, wenn sie die Begleitung nicht mehr braucht. Auch dann behält sie natürlich die Wohnung. Und das ist ein Unterschied zu vielen anderen Hilfen.

Wie verändern sich die Menschen in Ihrer Wahrnehmung nach dem Einzug?
Natürlich ist zunächst der Stress weg, den so ein Leben ohne Wohnung bedeutet. Und das wird auch so thematisiert, dass die Wohnung an sich, auch wenn sie noch gar nicht weiter eingerichtet ist, eine enorme Verbesserung der Situation bedeutet. Wir haben mehrere Menschen im Projekt, die an einer Jobcenter-Maßnahme teilgenommen haben und das positiv beschreiben. Wir haben mehrere Menschen, die mit unserer Unterstützung in eine Entgiftung oder Substitution gekommen sind. Natürlich gibt es auch Probleme, die auftauchen: Ein Thema, mit dem wir viel zu tun haben, ist, dass die Menschen, sobald sie wieder eine Meldeadresse haben, Post bekommen von Gläubigern oder von der Staatsanwaltschaft, weil Haftstrafen offen sind. Häufig geht es dabei lediglich um Schwarzfahren und wir unterstützen in den Fällen dabei, die Haftstrafen abzuwenden und stattdessen Sozialstunden zu machen. [...]