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Sprache muss sein

Maß für Maß - Unsere Sprache zwischen Anpassung und Bewahrung

Kürzlich während einer Feier zum runden Geburtstag eines Freundes mit vielen Gästen und zwei Kulturbeiträgen hoch oben im „City Tower“. Einer der beiden Auftretenden: der Leipziger Wortkünstler Günther Brendel. Mit fahrigen Bewegungen setzt er sich rittlings auf einen Stuhl, hüpft damit über das Parkett, schnauft und ruft zwischendurch nur: „Stuhlgang!“. Das ganze wiederholt sich mehrmals. Das Publikum kichert. Die nächste Nummer: Brendel greift nach einem Text, der bei näherem Hinsehen nur aus Vokalen besteht, und deklamiert mit viel Gestik und Mimik lauthals: „Aha-oooh-uii-u-u-a-oa-ea-oa-iii-ei-eia-eia…“ Töne? Worte? Worttöne? Tonmalerei? Von allem etwas.

Echt cooler Auftritt
Die Enkelin des Jubilars japst nach Luft vor Lachen und ruft in den Applaus hinein: „Der ist ja echt cool!“ Für sie ist es reiner Klamauk eines hageren Mannes, der da vorne urige Faxen macht. Für Brendel hingegen ist Sprache wie ein bearbeitbares Rohmaterial, das er zerlegt, zerhackt, neu zusammenfügt oder verwurstelt, oder gängigen Begriffen neue Bedeutung verleiht, indem er die Begriffe wörtlich nimmt oder sie in einen anderen Kontext stellt. Und das kleine Mädchen hat mit einem Begriff reagiert, der aus einer anderen Sprache stammt und eigentlich einen Temperaturzustand bezeichnet, aber im heutigen Sprachgebrauch das umschreibt, was etwas ältere Generationen entweder als „toll“, „lässig“, „urst“, „fetzig“ und „dufte“ umschrieben haben (und heutzutage fast keiner mehr gebraucht und meistens sogar nur regional benutzt wurde). „Cool“ ist global geworden.
Merken Sie‘s? Wohl nichts ist dynamischer ALS die Sprache, und Sprache und Begriffe sind so viel deutbar WIE ein Orakel. Womit wir an dieser Stelle gleich mal den Gebrauch von „als“ und „wie“ zurechtrücken. „Als“ im Sinne von Vergleich von zwei Unterschieden scheint auszusterben. Mit „wie“ vergleicht man normalerweise zwei gleichwertige Dinge – doch heutzutage hört man sowas: „Er ist besser wie sein Bruder…“ Brr!
Aber was ist heutzutage schon normal? Auf alle Fälle ein Schrumpfungsprozess bei den Sprachen. Ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Jedenfalls hat es einen solchen Prozess schon immer gegeben, das sollten wir nicht vergessen. 1 000 n. Chr. existierten etwa 9 000 Sprachen. Gegenwärtig gibt es noch über 6 000 Sprachen weltweit (genau ist es aufgrund noch unentdeckter Sprachen nicht zu ermitteln), und nach Schätzungen der Unesco werden es am Ende dieses Jahrhunderts nur noch halb soviel sein. Die heute meistgesprochene Sprache mit 726 Millionen Menschen ist Mandarin-Chinesisch, gefolgt von Englisch (427 Mio.) und Spanisch (266 Mio.). Auf Platz Zehn der Top-10-Liste der verbreitetesten Sprachen liegt Deutsch mit 121 Mio. Menschen.

Stirbt das Deutsch aus?
Bleiben wir bei der Muttersprache. Wieder so ein Begriff. Laut Definition bezeichnet er die in der frühen Kindheit ohne formalen Unterricht erlernte Sprache, also die Erstsprache. Diese prägt sich in ihrer Lautgestalt und grammatischen Struktur so tief ein, dass Sprecher ihre Muttersprache weitgehend automatisiert beherrschen. Doch wenn die Kids ihre Mails abchecken oder eine Message posten, um ein Date zu machen oder auf Shopping-Tour zu gehen, um mit Young Fashion ihr Styling aufzupeppen – ja ist dieses Denglisch dann auch Muttersprache? Denn mit Denglisch bzw. mit dem einen A wie Anglizismen wachsen die Kinder heute auf, sie kennen es nicht anders und gehen ganz selbstverständlich damit um. [...]