Wenn ein geliebter Mensch stirbt, gerät die Welt der Hinterbliebenen aus den Fugen. Akute Trauer ist die natürliche Reaktion auf einen solchen Verlust. Doch einige Menschen können diesen nicht verarbeiten und entwickeln eine sogenannte „anhaltende Trauerstörung“. Für Betroffene bietet die Klinik für Psychosomatische Medizin des Universitätsklinikums Leipzig nun im Rahmen eines neuen Forschungsprojekts professionelle Unterstützung und eine mehrwöchige Therapie an. Die KiPPE sprach mit Prof. Dr. med. Anette Kersting, der Direktorin der Klinik, über intensive Trauer, innovative Psychotherapie und das Forschungsprojekt PROGRID.
Interview: Sandy Feldbacher & Foto: Universitätsklinikum Leipzig
KiPPE: Was ist Ziel und Vorgehensweise des Forschungsprojekts „PROGRID“?
Anette Kersting: Das Projekt richtet sich an Menschen, die an einer anhaltenden Trauerstörung leiden. Für diese wurde ein ganz spezifisches Behandlungskonzept entwickelt. Ziel ist nachzuweisen, dass es wirkt. Es findet im Rahmen einer großen von der DFG geförderten Studie statt, deshalb gibt es deutschlandweit auch mehrere Behandlungszentren, weil wir eine große Anzahl von Patienten behandeln möchten. Da es ein Forschungsprojekt ist, werden die Patienten immer wieder mit Fragebögen konfrontiert, weil das unsere Messinstrumente sind. Außerdem ist es Teil des Projekts, dass die Patienten zufällig zwei verschiedenen Behandlungsarmen zugeteilt werden. Das eine ist die Behandlung, die wir gern evaluieren möchten, und das zweite eine andere, die nicht ganz so spezifisch auf die Trauersymptomatik abhebt, aber auch wirksam ist. Wir möchten dadurch zeigen, dass eine ganz spezifische Behandlung noch besser für die Patienten sein könnte. Und das kann man eben nur so nachweisen. Wenn sie gut wirkt, könnte man die Vorgehensweise schriftlich darlegen und allen Therapeuten zur Verfügung stellen.
Von wann bis wann läuft PROGRID?
Die erste Therapie begann im November 2017. Die letzten Behandlungen werden voraussichtlich bis 2021 durchgeführt werden.
Wie viele andere Behandlungszentren gibt es?
Es sind vier: neben Leipzig noch Frankfurt, Eichstätt-Ingolstadt und Marburg. Jedes Zentrum behandelt eine bestimmte Patientenanzahl und dann werden in Eichstätt sämtliche Daten ausgewertet.
Was ist die „anhaltende Trauerstörung“?
„Anhaltende Trauerstörung“ bedeutet eigentlich, dass Menschen einen Verlust nicht bewältigen können. Wenn man jemanden verliert, der einem sehr nahe steht, ist das ein sehr schmerzlicher Einbruch. Trauer gehört zum Leben dazu, es ist ein ganz normales Gefühl mit ganz vielen Qualitäten – Sehnsucht nach dem Verstorbenen, ein Schmerz, den man fast körperlich spürt, und dass man Schwierigkeiten hat, sich auf das aktuelle Leben und die Zukunft zu konzentrieren. Das sind ganz normale Symptome gesunden Trauerns. Im Verlauf der Zeit ist es in der Regel so, dass diese Trauergefühle seltener werden und es nicht mehr ganz so weh tut, wenn man sich erinnert. Und das, was im Moment und für die Zukunft im Leben wichtig ist, bekommt nach und nach wieder mehr Raum. Man kann nie sagen, wann Trauer abgeschlossen ist, manchmal ist sie es nie, aber die Menschen kommen irgendwann wieder gut mit ihrem Leben zurecht. Das wäre ein normaler Trauerprozess.
Bei dem Krankheitsbild „anhaltende Trauerstörung“ ist es so, dass Menschen diesen Prozess nicht durchlaufen können, sondern quasi stecken bleiben, d. h. die Symptome, die genau definiert und Ergebnis wissenschaftlicher empirischer Studien sind, bleiben bestehen. Beispiele hierfür sind Sehnsucht nach dem Verstorbenen, eine übermäßige Beschäftigung mit demjenigen, dass der Tod nicht akzeptiert werden kann, das Gefühl, dass ein Teil von einem selbst gestorben ist, dass man Schwierigkeiten hat, im eigenen Leben weiterzuleben – Dinge, die unmittelbar nach dem Tod ganz normal sein können. Deswegen hat man ein Zeitkriterium definiert und sagt, wenn diese Symptome nach mehr als sechs Monaten immer noch so intensiv vorhanden sind, dass die Menschen sich im alltäglichen Leben erheblich beeinträchtigt fühlen, können es Anhaltspunkte für eine „anhaltende Trauerstörung“ sein. Es ist wichtig, dass mit dem Krankheitsbild das Trauern als normaler menschlicher Vorgang nicht pathologisiert wird. Das ist überhaupt nicht mein Anliegen, sondern dass man die Menschen, die den Verlust nicht allein bewältigen können und darunter erheblich leiden, erkennt und ihnen entsprechend helfen kann. [...]