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Die Seele Georgiens

„Wir sind Gäste in dieser Welt der Minute.
Wir vergehen, und die Nächsten bleiben hier.
Was wir miteinander tun, all diese freundlichen und angenehmen Dinge – Das ist es doch, wofür wir leben, oder?
Was, außer dem, werden sie mit in unsere Gräber legen?
Nur drei Meter Leinwand, nur“… *

Text & Foto: Constanze John

* Auszug aus dem Buch der Autorin: „40 Tage Georgien. Unterwegs von Tiflis bis ans Schwarze Meer“, DuMont Reise, 2018


Zutisopeli oder Die Minutenwelt ist – Gedicht, Gebet, Lied; Weltanschauung, Lebenshaltung. Der Hamburger Ethnologe Dr. Florian Mühlfried fasst auf meine Bitte hin Zutisopeli zusammen: „Zutisopeli ist ein in Georgien ganz geläufiger Begriff, um die Vergänglichkeit der Welt auf einen Punkt zu bringen… Die Welt des Augenblicks kann man vielleicht auch noch sagen. Die dann – und da gibt es die Verbindung zur Supra, zum georgischen Gastmahl, – eben kultiviert und gefeiert wird. Anstatt also großartig Dinge für die Zukunft zu machen, das Geld auf die Bank zu legen, wird alles jetzt in diesem Augenblick getan.“
Und all das hier in Grusija, wie es die Russen nennen, Georgia, wie es im Englischen heißt, Sakartwelo, wie sie selbst es nennen, die Kartweli, Bewohner des Landes. In Georgien leben 3,7 Millionen Einwohner; davon 1,2 Millionen in der Hauptstadt Tbilissi, in Westeuropa auch Tiflis genannt.
Von der Größe her ist Georgien vergleichbar mit dem deutschen Bundesland Bayern. Die Nachbarländer sind Russland, Türkei, Armenien und Aserbaidschan. Die längste dieser Grenzen ist die zu Russland mit 723 Kilometern. Hier befinden sich auch die Konfliktzonen Abchasien und Südossetien.
Am 26. Mai 1918 erklärte sich Georgien für unabhängig von Russland bzw. von der Transkaukasischen Föderation. Deutschland spielte dabei eine entscheidende Rolle, denn Deutschland war das erste Land, das die Unabhängigkeit Georgiens damals anerkannt hat. Das verhinderte vor allem eine türkische Eroberung. Im Ausgleich dazu wurden Deutschland wirtschaftliche Privilegien zugesichert. Die Georgier haben das nie vergessen. Diese erste Unabhängigkeit währte bis zur Ausrufung der Georgischen Sowjetrepublik 1921. Seit dem 9. April 1991 ist Georgien erneut unabhängige Republik.
Zutisopeli: Irgendwoher kommen wir, irgendwohin gehen wir. Und immer nehmen wir uns mit. Wir, Gäste, in dieser Welt …
Die Existenz von Konfliktzonen jedweder Art scheint dem nur auf den ersten Blick zu widersprechen. Denn der Schmerz, der in der Folge der Konflikte für Menschen mit solch innerster Weltanschauung entsteht, ist immer mit der Zutisopeli-Weltanschauung verbunden: Wir haben doch nur diese Minute, diesen Wimpernschlag
… Und was haben wir daraus gemacht? Was tun wir hier? [...]