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So selbstbestimmt wie möglich

Für nicht wenige Mitbürger ist die Alltagswelt voller Tücken: Paragraphendschungel, Bürokratie, Ämterwirrwarr, Kommunikationshürden und, und, und… Es trifft vor allem jene Leute, die psychisch labil sind, in Einsamkeit leben, an chronischen Krankheiten leiden, Entzüge hinter sich haben oder einfach nur arm sind. Doch es gibt Türen für Auswege, wie etwa der Betreuungsverein Herberge e.V. sie offen hält. Seit mehr als 25 Jahren kümmert sich der Verein um Menschen wie Lutz, den wir kennengelernt und seine Lebensgeschichte erfahren haben.

Text & Foto: Björn Wilda


Wenn Lutz die Räumlichkeiten des Herberge e.V. in Connewitz betritt, dann gelten seine ersten Schritte stets dem Büro von Birgit Ulbricht. Nicht ausschließlich, um jedes Mal um Hilfe zu bitten, sondern einfach mal zum Guten-Tag-Sagen und kurz schwatzen. Da fühlt sich Lutz wohl. Seit zwölf Jahren ist Frau Ulbricht seine Betreuerin. Die Umstände, wie es dazu kam, waren für den 62-Jährigen zunächst alles andere als erhebend. Lutz ist Alkoholiker, seit etlichen Jahren trocken. „Meine letzte Entgiftung hatte ich in der Soteriaklinik“, berichtet Lutz ohne Umschweife. „Da hatte ich schon zwei Entzüge hinter mir.“ Lutz schüttelt dabei den Kopf, als ob er es selbst nicht mehr fassen kann. „Vor der Entlassung aus der Klink hat die Leitung mich gefragt, ob ich anschließend eine professionelle Betreuung annehmen wolle – von einem Mann oder von einer Frau?“ Ja, aber nur von einer Frau, habe er sofort geantwortet. Denn da gibt es noch so eine Sache, die sein Leben bis heute beeinträchtigt. Lutz kann weder lesen noch schreiben. „Bei einer Frau fühle ich mich da besser aufgehoben, Frauen sind einfühlsamer“, so seine Begründung.
So erledigt Vereinsbetreuerin Birgit Ulbricht – sie ist zugleich stellvertretende Geschäftsführerin und Stefan Güssmers rechte Hand – nicht nur Lutz‘ Post, sondern begleitet ihn bei Bedarf auch zu Arzt- oder Behördenterminen. Diese Verordnungen, Formulare, Bestimmungen, Regeln und weiß der Teufel noch alles! Damit kommen ja nicht mal Lesende zurecht! Trotzdem, Lutz ist kein verbitterter und kränkelnder 62-jähriger Mann. Was er durchmachte, hat ihn stark, was er überwand, hat ihn selbstbewusst gemacht. Und die Herberge ist für ihn so etwas wie ein Anker geworden. Er könnte doch noch Lesen und Schreiben lernen. „Nee, auf meine alten Tage fällt mir das zu schwer, dazu fehlt mir einfach die Konzentration“, wehrt er ab. Das Thema ist gegessen.
Selbstbestimmtes Wohnen jedoch ist ihm seit einiger Zeit gegeben, nachdem er Stationen durchlaufen hat, die ein anderes Ende hätten erwarten können. Seine kleine Wohnung in Großzschocher „mit viel Grün ringsrum“ habe er selbst renoviert, er fahre viel Rad und helfe ehrenamtlich in einem benachbarten Seniorenheim aus, z.B. als Hausmeister. Zupacken kann er immer noch. Lutz ist endlich mit sich im Reinen. Der Weg war lang und brüchig, bis er zu diesen Punkt gelangte. Lutz stammt aus der Zeitzer Gegend, arbeitete bei Zekiwa, dem einst weltweit exportierenden Kinderwagenhersteller, und der nach der Wende plötzlich nichts mehr wert war. In drei Schichten schuftete er außerdem im Braunkohletagebau, wo er sogar in der Kanzel einer Förderbrücke saß. Leider bewies Lutz auch kriminelle Energie, er stahl und unterschlug. Dafür kam er in den Knast. Aus der Haft wurden er und viele andere Insassen vorzeitig entlassen, weil 1987 in der DDR jene Generalamnestie erlassen wurde, die Erich Honecker vor seinem BRD-Besuch in einem besseren Licht stehen lassen sollte. Schon lange zuvor war bei Lutz Teufel Alkohol mit im Spiel, es muss schon seit der Jugendzeit gewesen sein, vermutet er. Alkohol gehörte einfach zum Alltag. Die Wirren der Wende brachten da noch mal einen Schub, die Geschwister wandten sich gen Westen und wollten mit dem schwarzen Schaf nichts mehr zu tun haben. Lutz schlug sich allein durch und nahm Nebenjobs an: Kohlenträger, Waldarbeiter, Kirmesbetreuer, Zeitungsverkäufer. Er führte das Leben eines Wandervogels, das ihn u.a. nach Berlin, Stuttgart, Gießen, Frankfurt/Main, München und Salzburg brachte. Dann wieder Abstürze, selbst als er um 2000 wieder nach Leipzig kam und in Dösen sich in einer Gemeinschaft mit Alkoholkranken wiederfand. [...]