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Ein fernöstlicher Beobachter im alten Leipzig

Unser Autor Elmar Schenkel hat sich wieder einmal einer Persönlichkeit von einst gewidmet, die oft von weit her kam und einige Zeit in Leipzig verbrachte. Später wurden sie nicht selten international bekannt – ob als Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler oder Politiker. Diesmal geht es um den japanischen Schriftsteller und Arzt Mori Ogai (1862–1922).

Text: Elmar Schenkel & Bildquelle: Wikipedia


Das Weihnachtsfest 1885 war soeben vorbei, da saßen zwei Japaner in Auerbachs Keller und philosophierten über Goethe und Faust. Schließlich schlug der eine dem anderen vor, das Werk ins Chinesische zu übersetzen. Übersetzt hat er es dann, allerdings ins Japanische, und in Japan ist diese Übersetzung bis heute hoch angesehen. Wie auch sein Übersetzer. Es handelt sich um Mori Ogai (nach japanischer Sitte mit dem Familiennamen zuerst). Er sollte noch aus vielen Sprachen berühmte Werke übersetzen: Strindberg, d’Annunzio, Schnitzler, Rilke, Clausewitz oder Balthasar Gracían – um nur einige zu nennen. Aber er ist in Japan nicht deswegen bekannt, sondern weil er als Autor zu den Mitbegründern der modernen japanischen Literatur gehört (neben Natsume Soseki). Möglicherweise wäre er das ohne seinen Deutschlandaufenthalt von 1884- 1888 nicht geworden. Japan schickte, seit es 1853 von den Amerikanern gewaltsam geöffnet worden war, seine Elite nach Europa und Amerika, um die dortigen Rechtssysteme, das Militär und andere Institutionen zu studieren und von ihnen zu lernen. In dieser Funktion wurde Mori Ogai entsandt – und zwar als Militärarzt für Hygiene und Sanitätswesen. Er studierte dieses Gebiet – mit vielen praktischen Besuchen bei Manövern, Verwundetentransporten oder in Krankenhäusern – in Berlin, München, Dresden und eben auch in Leipzig. Sein Deutschlandtagebuch, das auch ins Deutsche übersetzt wurde, liest sich heute noch sehr frisch und lebendig. Man spürt den fernöstlichen Blick, die Verwunderung über die seltsamen Sitten der Deutschen, eine gewisse Naivität, gemischt mit Bewunderung und Ablehnung.

Als er in Berlin ankommt, empfehlen ihm seine japanischen Vorgesetzten, sich nicht so tief zu verbeugen, das tue man hier nicht. Auch solle er die Armeeuniform ablegen. Eine Wohnung in Leipzig, wo er am 22. Oktober 1884 eintrifft, findet er in der Talstraße. Leipzig kommt ihm sehr industriell vor: „Unter allen Großstädten in Deutschland gibt es wohl keine zweite, die so viele Fabriken hat wie Leipzig.“ [...]