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Wohin die Reise ging

Im Sommer 1990 war nichts mehr wie vorher

1990 war für viele Ostdeutsche ein einprägsames und bewegtes Jahr. Die DDR gab es ab Oktober nicht mehr, und die plötzliche Reisefreiheit eröffnete neue Horizonte. Jahre zuvor haben die DDR-Bürger/innen wohl kaum damit gerechnet, dass ihnen eines Tages die ganze Welt offenstehen würde. Optimismus, aber auch Unsicherheit bestimmten das Lebensgefühl. Doch verbinden den Sommer 1990 alle, die ihn erlebt haben, mit ganz persönlichen Erinnerungen. Wohin hat es die Ostdeutschen gezogen? Gemeinsam möchten wir uns an diese Zeit erinnern und reisen gedanklich zurück in den Sommer vor 30 Jahren.

Text: Anika Krasa / Björn Wilda & Karte: Anika Krasa


Im August 1990 berichtet der „Spiegel“ über eine Tourismuspleite an der Ostsee – ein Reiseziel, das bei den DDR-Bürgerinnen und Bürgern hoch im Kurs stand, aber in diesem Sommer einen plötzlichen Einbruch erlebte. Im Ostseebad Binz auf Rügen war die Nachfrage um fast 50 Prozent zurückgegangen. Auch Campingplätze waren bei weitem nicht so ausgelastet wie früher und Strandkörbe blieben vielerorts leer.

Ein Jahr zuvor sah die Welt noch ganz anders aus. Nehmen wir Kühlungsborn. Es war das größte Ostseebad in der DDR gewesen. Einen Ferienplatz nicht nur hier zu bekommen, war wie ein Sechser mit Zusatzzahl. Das lief nur über den FDGB oder über Beziehungen. Kühlungsborn hatte Ferienheime, Privatquartiere, eine ausgedehnte Promenade und urige Kneipen, die abends stets überfüllt waren. Wie der legendäre „Nasser Sack“. Man kam mit Einheimischen wie Handwerkern oder Fischern und mit anderen Urlaubern beim Bier zum Schnacken zusammen. Für Plätze im Restaurant musste man warten oder einige der wenigen Alternativen wählen. In den größeren Ferienheimen wurde schichtweise Mittag gegessen. Jedenfalls brummte es ordentlich. Da Kühlungsborn zum Grenzgebiet zählte, wurde in den späten Abendstunden am Strand kontrolliert. Noch heute zeugt ein ausgedienter Wachturm an der Promenade von jenen Zeiten. Dann kam alles anders. Im Sommer/Herbst 1990 war man nicht nur in Kühlungsborn fast mit sich alleine. Die Wirte langweilten sich, weil sich kaum noch Gäste zeigten. Viele waren erstmal weg. Und jene die kamen, waren in der Regel nicht zum Erholen gekommen, sondern um nach Immobilien Ausschau zu halten oder zu übernehmen. Das große Monopoly war ausgebrochen.

Umgekehrt erhoffte sich die ostdeutsche Tourismusbranche einen Besucheransturm aus dem Westen – doch der blieb aus, vor allem, da die ostdeutschen Urlaubsstandards hinter westdeutschen Komfortansprüchen zurückblieben. Und wohin reisten die Ostdeutschen im ersten Sommer mit Reisefreiheit, deren Fehlen ein entscheidender Grund für den Zusammenbuch der DDR war? [...]