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Demos & Diskussionen

„Das verbietet sich, wenn man an 1989 denkt!“

Nach wie vor ist die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns stark mit der Friedlichen Revolution in Leipzig verbunden. Sie sieht bis heute ein großes Potential in den Ereignissen damals. Daraus könne man immer wieder schöpfen. Fassungslos mache es sie dagegen, wenn 1989 von rechtsextremen Kräften für die eigenen Zwecke instrumentalisiert wird und sich ein einstiger Weggefährte dafür auch noch zur Verfügung stellt.

Interview: Sandy Feldbacher & Foto: © Christiane Gundlach


KiPPE: Wie blicken Sie heute auf Ihre Zeit in der DDR-Bürgerrechtsbewegung zurück?
Gesine Oltmanns: Wenn ich zurückdenke, spielt es eine große Rolle für mich, dass nicht einzelne Personen im Fokus standen, sondern verschiedene Menschen die Initiative ergriffen haben, mutig waren, vorangegangen sind und viel riskiert haben mit öffentlichem Protest, Transparenten, Flugblättern und Demonstrationen, die es ja in der Form lange nicht mehr in Leipzig gegeben hatte. Das alles war von vielen getragen. Deshalb wehre ich mich dagegen, gesondert als Bürgerrechtlerin benannt zu werden. Das Tolle war, dass die Demonstrationen aus sich herausgewachsen sind. Wir haben schnell wahrgenommen, dass sie sehr divers sind. Und ich bin nach wie vor fasziniert, wie sich das aus vielen verschiedenen politischen Umständen zu einer Bewegung entwickelt hat: mit viel intellektueller Vorbereitung, neuem Denken und einer Mischung aus Freiheitssehnsucht, Frust, Wut, Mut und Achtsamkeit und Vorsicht – alles beieinander. Diese Vielfalt macht für mich die Friedliche Revolution heute aus. Wir haben gemeinsam eine Diktatur überwunden und eine Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt. Das ist eine große Sache. Und es ist gut und wichtig, dass wir diesen Entscheidungsmoment – den 9. Oktober in Leipzig – für uns bewahren.
Für mich gibt es zwei Dinge, die ganz stark sind und die ich aus dieser Zeit mitnehme. Das ist einmal diese große Solidarität, die stark macht, und Gewaltfreiheit. Dass man es geschafft hat, aus dieser extremen Gewaltlage vor dem 9. Oktober, eine andere Form der Verständigung, nämlich eine gewaltfreie, zu finden. Das ist heute die Herausforderung. Genau wie das Solidarische in der Corona-Zeit so eine große Dimension bekommen hat.

Wie beurteilen Sie die gesellschaftspolitische Entwicklung seit der Wendezeit? Welche Ziele von damals sehen Sie umgesetzt, welche nicht?
Die großen Dinge sehe ich alle erfüllt – wenn wir jetzt von der Unfreiheit, der Repression und all dem sprechen, was wir in der DDR erlebt haben, war es eine große Selbstbefreiung. Das, was alles mitschwang an Träumen, Visionen, Vorstellungen und Ideen, ist für mich aber sehr schnell auf der Strecke geblieben. Mit dem Wahlergebnis vom März 1990 war alles beerdigt, was an anderen Gesellschaftsmodellen in den Aufbruch hinein mitgenommen worden war. In dem Moment war klar, die Menschen wollen jetzt etwas Anderes als wir uns das vorgestellt haben. Dennoch besteht für mich und andere nach wie vor der Ansatz, über andere Gesellschafts- und Zukunftsmodelle nachzudenken und auch dafür zu kämpfen. Da bleiben wir uns als 89er treu, wenn wir unsere gesellschaftliche Beteiligung auch heute noch so verstehen. Wir veranstalten zum Beispiel als Stiftung Friedliche Revolution die Revolutionale – das Festival für Veränderung, das viele Menschen und Gruppen aus aller Welt hierherholt, um gemeinsam im internationalen Austausch ein Denken für die Zukunft zu praktizieren. Da geht es einerseits um 1989 und die Frage, wie wir Erinnerung in die Zukunft und Gegenwart tragen können. Das andere sind wichtige gesellschaftliche Themen wie Klimapolitik, Geschlechtergerechtigkeit, Menschenrechte, Pressfreiheit und vieles mehr. [...]